Marcel Meury aka Mars Alive
Kunst ist ein Akt der Co-Fürsorge
Zusammenfassung
Das Vorhaben “Kunst ist ein Akt der Co-Fürsorge” beschäftigt sich mit der Rolle der Kunst in psychisch belastenden Zeiten sozioökonomischer und ökologischer Krisen. Es untersucht, wie Kunst als Mittel zur Förderung der psychischen Gesundheit und der sozialen Teilhabe dienen kann. Insbesondere für marginalisierte Gruppen, die aufgrund sozialer Herkunft, prekärer Arbeitsbedingungen und existenzieller psychischer Krisenerfahrungen besonders vulnerabel sind - wozu namentlich auch zahlreiche Künstler:innen und andere Akteur:innen des Kunst- und Kulturfeldes gehören. Das Vorhaben betont die Notwendigkeit einer inklusiven und partizipativen Kunstpraxis, die soziale Ungleichheiten reduziert und psychische Gesundheit stärkt.
° Ausgangslage
Der Umgang mit Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität des Daseins stellt seit jeher die psychische und physische Gesundheit des Menschen auf eine harte Probe. Mit den multiplen globalen Herausforderungen und den damit einhergehenden sozial-ökologischen Krisen, die sich immer mehr Kipppunkten mit irreversiblen Folgen nähern, verschärft sich diese Problematik zunehmend in einer weltweit existenzbedrohenden Qualität.
Von dieser Bedrohung ist prinzipiell die gesamte Menschheit betroffen - in besonderem Masse jedoch die überwiegend systemisch benachteiligten Teile der Weltbevölkerung. Trotz der grundsätzlich privilegierten schweizerischen Existenzbedingungen leiden auch in der Schweiz nachweislich immer mehr Menschen an Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit, die mit einem Anteil von 54,3% inzwischen mehr als die Hälfte der IV-Neurenten ausmachen.1
Die Volatilität und Komplexität des Alltagslebens nimmt zu und die global um sich greifenden Existenzängste erfordern radikal neue Denkansätze in allen physischen und mentalen Dimensionen. Neue Ansätze der Existenzsicherung, ein neues Verständnis von Wachstum, Wertschöpfung und Arbeit im Sinne eines sozial und ökologisch tragfähigen Zukunftsmodells für alle Teile der Gesellschaft. Dies erfordert umso mehr radikal neue Ansätze für marginalisierte Gruppen.
° Worum geht es?
Gerade für Künstler:innen mit Armuts- oder Psychiatrieerfahrung wird es aufgrund prekärer Arbeitsbedingungen und sozialer Isolation, zunehmend zu einer existentiellen Herausforderung, den Klimawandel, Pandemien und Kriegen, mit einer resilienten Haltung zu begegnen. - In der Folge neigen viele Betroffene dazu, die eigene Verwundbarkeit zu ignorieren und die eigenen positiven Ressourcen zu untergraben. In diesem Kontext wird es immer wichtiger, mentale und soziale Fähigkeiten wie Achtsamkeit und (Selbst-)Mitgefühl zu entwickeln, um mit den sich überlagernden Stresssituationen, Konflikten und Krisen umzugehen und eine gesunde, resiliente und gleichzeitig auch vulnerable Haltung einzunehmen. Sich in der künstlerischen Praxis gut zu strukturieren, stellt insofern für viele eine große Herausforderung dar. Prekäre und unsichere Arbeitsverhältnisse im Kunstfeld erschweren oft einen effektiven und effizienten Umgang mit den eigenen positiven Ressourcen. Künstler:innen aus marginalisierten Gruppen haben aufgrund von Benachteiligung und Ausgrenzung oft kaum Zeit, eine gute und realisierbare Arbeitspraxis zu entwickeln. Für eine nachhaltige berufliche Entwicklung ist jedoch ein strategischer Umgang mit den eigenen positiven Ressourcen unabdingbar.
Psychische Gesundheit ist ein dynamisches Zusammenspiel biologischer, psychologischer, sozialer und spiritueller Faktoren. Da die negativen Auswirkungen der vielfältigen Herausforderungen auf die psychische Gesundheit in Zukunft zunehmen werden,2 ist es notwendig, Selbstfürsorge und Fürsorgearbeit mit sozioökonomischen Fragen zu verknüpfen und die gewonnenen Erkenntnisse für eine Transformation in die Alltagspraxis zu integrieren. Der Fokus liegt dabei auf der Bedeutung des Verstehens, Integrierens und Erlebens von psychischer Gesundheit als grundlegende Resilienzkomponente im künstlerischen Alltagsprozess.
Ziel des im Folgenden beschriebenen iterativen Vorhabens ist es, zeitnah ein schweizweites, offenes Netzwerk zu schaffen, das sich mit den sozioökonomischen Herausforderungen in der künstlerischen Praxis auseinandersetzt, geeignete Werkzeuge zur Verfügung stellt sowie individuelle Ressourcen erkennt, stärkt und damit über die eigene Alltagspraxis hinaus auch gesellschaftlich nachhaltige Veränderungen in der Existenzsicherung bewirkt - dies als Basis für eine Wertschöpfung,3 von der die gesamte Gesellschaft profitiert.
° Kunst in der Krise – Krise in der Kunst
Lasst uns über psychische Gesundheit sprechen
Der Begriff "Krise" im vorliegenden Titel mag beunruhigend klingen, er findet aber zunehmend in einem generellen Sinn Verwendung, wenn es darum geht, eine schwierige Situation zu beschreiben, die sich seit längerem abzeichnet und die ein radikales Umdenken und Handeln erfordert. Die Krise soll insofern auch nicht als individuelles Verschulden der Künstler:innen verstanden werden, sondern einen ganzheitlichen Blick auf die strukturellen Bedingungen im Kunstbetrieb und darüber hinaus eröffnen. Die Krise ist nicht Ausdruck eines individuellen, sondern eines systemischen Versagens. Die Künste thematisieren in ihren Veranstaltungs- und Ausstellungsprogrammen4 häufig die Selbst- und Fürsorgearbeit für marginalisierte Gruppen, jedoch bleibt dieser Diskurs weitgehend ohne substantiellen Einfluss auf die Strukturen des Kulturbetriebs. Privilegien erscheinen als selbstverständlich und bleiben unerkannt oder uneingestanden, vor allem von denen, die von ihnen profitieren. Es ist auch ein Privileg, Unterdrückung aus der Distanz beschreiben zu können. Insofern ist der Begriff des Klassismus5 im Kulturbetrieb6 und darüber hinaus in der Schweiz noch nicht ausreichend anerkannt, diskutiert und in eine stärkere intersektionale Verschränkung eingebettet. Es braucht deshalb praxisnahe Lösungen, im Sinne einer egalitären Beteiligung aller Akteur:innen, um die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu schliessen.
° Was Tun?
Der hier skizzierte iterative Arbeitsprozess begibt sich auf Spurensuche nach Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen zwischen Kultur-, Sozial- und Gesundheitsarbeit. Das Vorhaben stärkt Communities, teilt Erfahrungen und kollektives Wissen und geht aktiv in die Praxis. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit den Themenschwerpunkten: Kunst, Klassismus-(Armut), psychische Gesundheit. Die Elemente dieser Trilogie gehören inhaltlich zusammen, bedingen sich gegenseitig und bauen aufeinander auf. Im Zentrum steht die künstlerische soziale Praxis mit sozioökonomischen Fragestellungen. Damit verbunden ist eine hohe Verantwortung sowohl für die künstlerische Freiheit als auch für ein achtsames solidarisches Miteinander: Spaß haben!
° Kunst, Klassismus-(Armut), psychische Gesundheit
Die Geschichte eines Menschen ist immer auch eine Geschichte der ihn umgebenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Menschen in Armut sterben früher und leiden häufiger an psychischen Erkrankungen.7 Warum ist das so?
Krankheiten gehen häufig mit psychischen und sozialen Beeinträchtigungen einher. Gleichzeitig verhindern Krankheiten häufig die Wiedereingliederung in die soziale Teilhabe und führen so zu psychischen und/oder sozialen Beeinträchtigungen. Letztlich besteht ein doppelter Zusammenhang zwischen Armut und Gesundheit: Krankheit macht arm und Armut macht krank. Die Bedeutung der sozialen und finanziellen Lage für die Gesundheit zeigt sich in allen Lebenslagen und Lebensphasen der Menschen.
Dies ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Zum einen führt eine prekäre Lebenssituation dazu, dass es für Menschen mit geringem Einkommen schwieriger ist, sich gesund zu ernähren und eine angemessene medizinische Versorgung, z. B. beim Zahnarzt, zu erhalten. Zum anderen erzeugen Betreuungspflichten, unsichere Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit und Zukunftssorgen Stress, der sich negativ auf die Gesundheit auswirken kann. Hinzu kommt, dass Menschen mit geringem Einkommen strukturell bedingt oft weniger auf ihre Gesundheit achten, häufiger suchtgefährdet sind und seltener Zugang zu Vorsorgeuntersuchungen haben. Diese Faktoren tragen dazu bei, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, ein höheres Risiko für psychische und körperliche Erkrankungen haben und ihre Lebenserwartung geringer ist.
Wenn wir über Klassismus und Armut sprechen, sprechen wir über Macht, Zugänge und Habitus, über Bildungswege, Quereinstiege und die Vereinbarkeit unterschiedlicher Lebensrealitäten. Klassismus verläuft entlang von Klassenherkunft und Klassenposition, d.h. der Begriff bezeichnet die Diskriminierung, die Menschen aufgrund ihrer sozialen Herkunft (z.B. Arbeiter:innenkinder) oder ihrer ökonomischen Position (z.B. Armutsbetroffene, Erwerbslos) erfahren. Grundlage für die Auseinandersetzung mit Klassismus und Armut ist die Reflexion der eigenen Klassenherkunft und -geschichte: Woher komme ich?8 Wie und was denke ich heute über Klassismus und Armut? Wer kann es sich leisten, eine künstlerische Karriere als Möglichkeit zu sehen? Wie und wo reproduziere ich meine inneren Bilder von Prekarität? Wie fühlt sich existenzielles Überleben im individuellen Kapitalismus an? Welche Sprache verwende ich? Wie erzeuge ich Selbstwirksamkeit? Wo normiere ich meine Lebenserfahrung: in Scham, in Armut, in Wut, in psychischer Gesundheit, in Angst, in Sucht, in Selbstausbeutung, in Desynchronisation mit dem Lebensfluss, in Verletzlichkeit, in Sterblichkeit und schliesslich im Klassenbewusstsein?
° Sensibilisierung & Sichtbarkeit
Nicht jeder Mensch verfügt von sich aus über das notwendige soziale, kulturelle und monetäre Kapital,9 um den physischen, emotionalen und sozialen Herausforderungen des Lebens mit Wohlbefinden und Selbstwirksamkeit zu begegnen. Aus dieser Einsicht heraus, aber auch im Hinblick auf die Schaffung einer inklusiven Gemeinschaft, an der jeder Mensch mit seiner intrinsischen Motivation teilhaben kann, ist es wichtig, vor allem Künstler:innen zu Wort kommen zu lassen, für die Armut nicht erst durch die freiwillige Entscheidung für eine extrem risikoreiche Berufswahl zu einer konkreten Bedrohung geworden ist.10
Was müssen Künstler:innen und Betroffene tun, um einen ausgewogenen Zustand des physischen, mentalen und sozialen Wohlbefindens zu erreichen? Was braucht es denn? Wie viel Selbstausbeutung und Raubbau am eigenen Körper kann ich ertragen? Wie viel individuelles Handeln ist unter erschwerten strukturellen Bedingungen überhaupt möglich und was sind die Voraussetzungen dafür? Welcher Synchronisation mit dem Lebensfluss folge ich? Welche Resonanzräume11 eröffnen sich mir?
Der erste Bürger:innenrat für junge Menschen in der Schweiz - der Zukunftsrat U24 - hat kürzlich eine Handlungsempfehlung12 zur psychischen Gesundheit verabschiedet und fordert darin gesellschaftspolitische Massnahmen zur Aufklärung, Erkennung und Prävention psychischer Gesundheit sowie zur Stärkung der Chancengleichheit bei Gesundheitsangeboten. Zudem empfiehlt der Rat die flächendeckende Einführung des Faches "Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung" während der obligatorischen Schulzeit. Dieser präventive Ansatz zur Förderung der psychischen Gesundheit durch Aufklärung und konkrete Interventionen ist für junge Menschen wirksam und wichtig.
Psychische Gesundheit muss aber auch darüber hinaus gelernt und gepflegt werden, nicht zuletzt um die Stigmatisierung psychischer Störungen zu überwinden. Psychische Krisenerfahrungen sind existenzielle Lebenserfahrungen, für die grundsätzlich niemand Diskriminierung zu befürchten hat. Einerseits geht es im vorliegenden Vorhaben darum, psychische Gesundheit als grundlegende positive Ressource in den alltäglichen künstlerischen Prozess zu integrieren und zu erfahren, andererseits hat die eigene Arbeit gleichzeitig direkte Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung. Das Bewusstsein für diese Wechselwirkung verspricht nicht nur tiefe Einblicke in die Herausforderungen der täglichen Praxis, sondern auch mögliche Lösungsansätze, um positive Ressourcen nachhaltig in den Kultur- und Kunstbetrieb zu integrieren. Dabei geht es nicht nur um mehr Unterstützung auf individueller Ebene, sondern auch um die generelle Frage, was es braucht, um langfristig ohne massive Armuts- und Gesundheitsrisiken Teil des Kunstfeldes zu bleiben.
Im Mittelpunkt steht ein Empowerment-Ansatz, der destruktive Selbstzuschreibungen erkennt, akzeptiert und transformiert. Ich bin davon überzeugt, dass mentale Gesundheit und künstlerische Praxis nicht nur denen zugänglich sein sollten, die es sich leisten können.
° Kunst ist ein Akt der Co-Fürsorge
Kunst wirkt, keine Frage. Doch wie wirkt Kunst, ohne wirken zu müssen? Diese Frage lässt sich nicht abschliessend beantworten, da unterschiedliche Interessengruppen das Wort "Kunst" für sich beanspruchen. Aber die dargelegten Überlegungen werfen weitere Fragen auf: Kann das vorliegende Vorhaben dazu beitragen, die Kunst zu demokratisieren und soziale Ausgrenzung zu verhindern oder abzubauen? Wer wird in Zukunft Zugang zu den Möglichkeiten von Kunst und Kultur haben? Kann Kunst Türen zur gesellschaftlichen Teilhabe für jene öffnen, die nicht dem Ideal des gesunden, leistungsfähigen Normmenschen entsprechen? Ist dies der Beginn einer Demokratisierung der Kunst? Wie bewahrheiten sich die Thesen von Joseph Beuys: "Das Atelier ist zwischen den Menschen" und "Jeder Mensch ist ein Künstler"? Welche zirkulierenden sozialen Energien sind hier am Werk und was leistet die Kunst für die Gesellschaft? "Art Is a Guaranty of Sanity" schreibt Louise Borgeois und trifft für mich den Nagel direkt auf den Kopf.
Marcel Meury, 2024
1 https://ind.obsan.admin.ch/indicator/monam/iv-neurenten-aufgrund-krankheit-alter-18-rentenalter
2 https://bmchealthservres.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12913-023-10124-3
3 https://www.who.int/publications/i/item/what-is-the-evidence-on-the-role-of-the-arts-in-improving-health-and-well-being-a-scoping-review
4 https://migrosmuseum.ch/ausstellungen/interdependencies
5 https://unrast-verlag.de/produkt/solidarisch-gegen-klassismus-organisieren-intervenieren-umverteilen
6 https://diversity-arts-culture.berlin/magazin-und-publikationen/dossier-kunst-kommt-von-koennen
7 https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2019_Leo_Forum_02_Gesundheitliche_Ungleichheit_01.pdf
8 Klassenreise: Wie die soziale Herkunft unser Leben prägt. Betina Aumair, Brigitte Theißl 2020 Wien: ÖGB Verlag
9 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp, 1982
10 https://diversity-arts-culture.berlin/magazin/das-eis-ist-duenn-aber-das-wasser-ist-lauwarm
11 https://www.zeit.de/2024/03/social-battery-soziale-energie-erschoepfung-kraft
12 https://zukunfts-rat.ch/handlungsempfehlungen
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